FASZINIERENDES INDIEN

In den letzten zehn Tagen hatten wir das Glück in die indische Kultur eintauchen zu dürfen. Einer unserer besten Freunde, er ist Inder, hat uns zu seiner mehrtägigen Hochzeit in seine Heimatstadt Bhagalpur eingeladen. Wir durften an Bräuchen und Ritualen teilhaben, Familie und Freunde kennenlernen und gemeinsam essen, kochen, feiern, lachen, tanzen und reisen. Dabei wurden wir als Ehrengäste mit einer enormen Neugier und Gastfreundschaft behandelt. Diese Erfahrung werden wir nie wieder vergessen!

riesiges dekoelement auf fahrradindisches hochzeitsbuffetDas Hochzeitsbuffet für 600 Gäste wurde in riesigen Metalltöpfen serviert. Zum Auffüllen gab es wiederverwendbare Plastikteller. Die Dekoration wurde von Profis aufgebaut und wird von Hochzeit zu Hochzeit gebracht, anstatt nur einmal verwendet. Und sogar beim Inlandsflug von Kolkata nach Delhi gab es Metallbesteck anstatt Einwegplastik. Lediglich Aludeckel und Serviette wurden weggeworfen.

Das Essen war unglaublich lecker. Nicht nur die indische Küche mit ihrer Vielzahl von Gewürzen, sondern vor allem die frischen Zutaten tragen zum einmaligen Geschmack bei. Pestizide, chemische Dünger und Massentierhaltung sind in Indien praktisch unbekannt, genauso wie genmanipuliertes Saatgut. Alles kommt sofort vom Feld auf den Tisch. Viele Inder leben vegetarisch wobei Milch ein wichtiger Bestandteil der Ernährung ist. Da Kühe in weiten Teilen des Landes als heilig gelten, leben sie überall ungestört und wer eine Kuh besitzt, stellt sie an erste Stelle.

gemuesestand

kuh liegt auf der strasse

Die Kuh wird noch vor den Kindern und sich selbst versorgt egal wie knapp das Essen auch sein mag. Die Milch wird zunächst dem Kälbchen überlassen, die Menschen nehmen sich nur den Rest. Sogar die Kuhfladen werden getrocknet und als Brennmaterial verwendet. Vor dem Trinken oder Verarbeiten wird die Rohmilch kurz abgekocht. Fast alle Speisen werden mit den Händen zubereitet und zum Essen verwendet man kein Besteck sondern die rechte Hand.

zwei inderinnen essen mit der rechten hand

Auch sonst ist das Leben in Indien sehr viel nachhaltiger als in unserer westlichen Welt. Zugegeben, oft wird aus der Not eine Tugend gemacht. So gut wie alles wird wiederverwendet. Zwar sind die Straßen schmutziger und vermüllter als in Deutschland, aber würde es bei uns keine Müllabfuhr geben, wären unsere Straßen wohl um einiges schlimmer dran. Leider gilt es in Indien aber als cool und modern die westliche Welt nachzuahmen und somit halten immer mehr Einwegprudukte Einzug in den Alltag.

 

 

 

Die indische Toilette kommt ohne Klopapier aus. Stattdessen reinigt man sich mit Wasser und der linken Hand. Zuerst war das für uns natürlich seltsam aber nach dem ersten Versuch stellten wir fest, dass es ziemlich einfach, sauber und schonend für die Haut ist. Lediglich das kurze trocknen lassen des Wassers fand ich etwas nervig. Anschließendes Händewaschen mit Wasser und Seife ist selbstverständlich.

Die Ursprünglichkeit ist auch im Leben der Menschen verankert. Die Menschen können einfach Menschen sein. Wer Hunger hat isst, wer müde ist schläft, wer uns anstarren will starrt einfach ohne dabei die Miene zu verziehen – kaum jemand im ländlichen Indien und sogar in Kolkata hatte schon Europäer getroffen, daher wurden wir auch oft zum fotografieren angehalten. Auf der Hochzeit wurden wir beim Essen genau beobachtet und bildeten das Zentrum der Diskussion und Belustigung. Die anfängliche Schüchternheit legte sich sehr schnell. Danach wurde an meinem Ohr rumgezupft damit sie die Ohrringe besser sehen konnten, uns wurde alles mögliche Essen mit der Hand in den Mund geschoben und jeder wollte sich mit uns unterhalten und uns die Hand geben. Berührungsängste gibt es auf jeden Fall keine.

anne mit inderfamilie im taxihochzeitstorte wird mit der hand in den mund geschoben

Die Inder genießen das Leben ohne sich ständig Gedanken um Vergangenes oder die Zukunft zu machen. Passiert etwas Schlechtes, singen sie nach fünf Minuten schon wieder vor sich hin. In Indien bemitleidet sich niemand selbst! Entscheidungen werden oft mit dem Herzen getroffen, anstatt mit dem Verstand. Alles wird so gelöst, dass es funktioniert, nicht unbedingt so, wie es am besten ist. Natürlich hat diese Denkweise auch Nachteile, sie ist aber wesentlich gesünder für die Psyche. Die Menschen freuen sich über kleine Sachen und ganz besonders, wenn Freunde und Familienmitglieder zu Besuch kommen. Sobald jemand genug zum Leben hat, das heißt Essen auf dem Tisch, Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, ein Feuer und die Familie um sich herum, ist er glücklich – niemand sucht hier künstlich nach immer mehr Zeug um sein Leben auszufüllen. In dem quirligen Chaos scheint jeder seinen Platz zu finden.

quirliches durcheinander auf einer strassenkreuzung in delhi

Allgemein gilt in Indien die Regel: Leben und leben lassen. Jeder soll sich nur so viel nehmen wie er braucht, alles andere gilt als unmoralisch. Trotzdem zeigt sich auch hier die Tendenz, dass wohlhabende Leute übergewichtig werden und sich immer weiter vom Glück durch ein einfaches Leben entfernen.

Das Sozialgefüge fand ich sehr spannend. In Indien kann man in Würde altern. Jüngere Menschen berühren zur Begrüßung und Verabschiedung den Fuß der jeweils älteren Person als Zeichen von Respekt. Mütter sind meist Hausfrauen und sehr eng mit ihren Kindern verbunden. Kinderwägen, Hochsitze, Krippenbettchen und ähnliches gibt es nicht. Kleine Kinder werden bei jeglichen Aktivitäten einfach im Arm gehalten. Geschwister lernen früh zu teilen, aufeinander aufzupassen und wachsen meist in einem Zimmer, ja sogar einem Bett auf. Bevor wir nach Indien reisten kam mir das unvorstellbar vor – dort angekommen nicht mehr so sehr. Die Menschen sind ziemlich lärmtolerant und jeder macht einfach sein Ding. Zudem wird nicht viel Zeit im Zimmer verbracht. Familienmitglieder unterstützen sich gegenseitig und gönnen sich Erfolge. Viele Sachen werden gemeinsam erreicht, wie zum Beispiel ein Haus für die ganze Familie zu bauen. Gegenüber Fremden außerhalb der Gemeinschaft allerdings muss man schon aufpassen nicht abgezockt zu werden. Hier gilt ganz klar das Recht des Stärkeren und man kann den Überlebenskampf deutlich spüren, bei dem jeder ganz einfach ein Stück vom Kuchen ab haben will.

Abgesehen von Großstädten und Touristenzentren gibt es in Indien keine Bettler. Jeder geht irgend einer Beschäftigung nach, außer er hat eine körperliche Behinderung die es ihm nicht erlaubt. Diese Menschen wiederum werden von der Allgemeinheit mit Essen versorgt, denn es gilt als gute Tat anderen zu helfen. Traurig ist nur, dass die meisten dieser Behinderungen durch ärztliche Hilfe hätten verhindert werden können. Leider gibt es die einfach nicht ausreichend oder die Menschen können sie sich nicht leisten.
Viele Inder denken auch, dass es in Europa und den USA keine Bettler gibt. Es ist wirklich schwer ihnen zu erklären warum es bei uns Menschen gibt die auf der Straße leben, obwohl die Grundversorgung vom Staat gesichert ist. Warum sind die Menschen nicht glücklich wenn sie doch alles haben was sie brauchen und noch mehr?

Ein anderer Punkt in dem ich meine Vorurteile nicht bestätigt sah war, dass Inderinnen viele Kinder haben. Verhütungsmittel sind weder unbekannt noch tabu. Die meisten haben ein bis maximal drei Kinder. Bei der hohen Bevölkerungsdichte des Landes ist das natürlich trotzdem eine Menge.

stau und smog in kolkataWas mich nach der Ankunft sofort schockiert hat war die Luftverschmutzung. Indien ist nach China und den USA der größte CO2 Produzent weltweit. Die Straßen sind verstopft, die Autos haben keine Filter und der schwarze Smog hängt über allen größeren Städten und reizt die Atemwege. Ein Leben zwischen Tradition und Moderne hat seinen Preis.

In Indien herrscht eine andere Art von Stress, die ich eher als bunten Trubel bezeichnen würde. Dies gilt auch in der modernen Arbeitswelt. Hier steigert sich kaum jemand in seinen Job rein, sondern jeder tut nur so viel wie er bezahlt bekommt. Wer mehr Geld bietet, bekommt auch bessere Arbeit, so einfach ist das. Jobs werden alle ein bis zwei Jahre gewechselt, denn es gilt als vorteilhaft so viele verschiedene Erfahrungen wie möglich zu erlangen. Inder sind sehr selbstbewusst wenn es um ihre Arbeit geht und packen die Dinge mit Zuversicht an, auch wenn sie keine Ahnung haben wie etwas geht. Sie lernen es einfach beim Tun. Diese Einstellung erklärt auch, warum Regierungsprojekte allzu oft scheitern.

Auch ist mir aufgefallen wie verweichlicht und weit weg von der Natur wir im Westen leben. In unserem täglichen Leben macht es kaum einen Unterschied ob es draußen kalt oder warm, hell oder dunkel ist. Wir schalten einfach das Licht an oder drehen die Heizung rauf. Wie soll man sich denn da lebendig und verbunden mit der Natur fühlen? In Indien sind die Menschen abgehärtet gegenüber Kälte, Wärme, lange nichts zu Essen und dann ganz viel, Bakterien, Staub, Smog und vieles mehr. Wir haben deutlich gespürt wie verwöhnt wir durch unser geregeltes Leben sind.

anne im sari auf indischem hochzeitsempfangDafür sind Inder sehr viel sensibler, wenn es ums Zeigen nackter Haut geht. Saris sind zwar oft bauchfrei aber Ausschnitt oder Bein zu zeigen ist inakzeptabel. Es kommt eben darauf an was man gewöhnt ist. Ich kann durchaus verstehen, dass es bei uns im Westen nicht schlimm ist viel Haut zu zeigen, denn die Menschen achten überhaupt nicht drauf. Bei einer Indienreise muss man sich als Besucher allerdings anpassen.

 

Wer in Indien gut verdient kann sich einiges leisten, das sich Gutverdiener bei uns nicht leisten können, denn alles ist unglaublich günstig. Außerhalb des Landes sieht das anders aus. Flugtickets zum Beispiel sind nahezu unerschwinglich, denn ihre Preise sind an westliche Standards gebunden. Für die letzten zwei Tage unserer Reise haben wir zwei teurere Hotels in Delhi und Agra gebucht und waren plötzlich von der Oberschicht umgeben. Ich kam mir mit meinem Backpack ganz schön fehl am Platz vor zwischen Scheichen, Geschäftsmännern und dem Rest der Elite Indiens. Ja, wer mit Euros oder US Dollern nach Indien kommt ist unumstritten reich! Beim Rückflug habe ich am Flughafen in Paris einen Euro gefunden. Ich konnte mir absolut nichts dafür kaufen – in Indien hätten wir für das Geld locker frühstücken können.

daniel mit backpack an der shangri-la hotel rezeption

Indien ist ein Land der Kontraste. In Delhi – dem New York Indiens – wird der Klassenunterschied besonders deutlich. Hier stehen hochmoderne Gebäude neben dürftigen Zeltstädten und Bauskeletten der noch nicht fertig gestellten Wohnkomplexe der Regierung. Auch das Kastensysem ist im ganzen Land immer noch in vollem Gange und es werden zum Beispiel Hochzeiten trotz Liebe verhindert bzw. entgegen dem Willen durchgesetzt. Traditionen werden sehr geachtet und streng befolgt. Bevor wir uns aber ein Urteil erlauben, sollten wir erst einmal darüber nachdenken warum Menschen auch bei uns in Klassen eingeteilt werden.

duerftige zeltunterkunft in kolkatamoderner wohnkomplex in kolkata

 

Wir wollten uns bei unserer Reise so verantwortungsbewusst wie möglich verhalten. Hier sind die Schritte die wir dazu unternommen haben:

– Wir haben eine UV Filter Flasche mitgenommen und eine extra Trinkflasche zum Umfüllen. So haben wir Plastikflaschen vermieden und konnten uns 100% sicher sein immer sauberes Trinkwasser zu haben, wenn wir es brauchten.

– Wir haben minimalistisch gepackt um Kerosin und Platz zu sparen und um das Reisen für uns einfach zu gestalten. Ein Backpack, ein kleiner Rucksack und eine Handtasche haben für uns beide bei der zehntägigen Reise gereicht – und das inklusive Anzug und Hochzeitsgeschenken. Da waren sogar unsere Gastgeber beeindruckt.

– Mit offenen Händen geben: Wir spendeten an ortsansässige Organisationen wie das Mutter Teresa Haus in Kolkata und gaben Leuten gute Trinkgelder, die sie wirklich brauchen konnten, wie Rikscha- oder Taxifahrer, wenn wir mit dem Service zufrieden waren was meistens der Fall war.

mutter theresa haus kolkata

– Wir achteten Traditionen. Vom Essen mit der rechten Hand bis hin zum Sari tragen und Füße berühren bei der Begrüßung von Respektspersonen haben wir uns so gut wie möglich angepasst und damit auf der Hochzeit Gelächter und Anerkennung geerntet. Auch beim Reisen alleine kamen wir so gut zurecht.

– Wir haben es aufgegeben uns schlecht oder schuldig zu fühlen für den Luxus in unserem eigenen Land sondern haben gelernt dankbar dafür zu sein wo wir geboren wurden und für unseren Lebensstandard. Wobei ich sagen muss, dass ich das Leben in Indien sehr schätzen gelernt habe. Ich glaube wenn ich dort aufgewachsen wäre, würde es mir schwer fallen wo anders zu leben.

 

Ich hoffe wirklich sehr, dass Länder wie Indien, die sich in großen Schritten weiterentwickeln, nicht die selben Fehler wiederhohlen die der Westen schon gemacht hat. Auf unserer Reise wurde uns gesagt, es sollte mal jemand Vorträge in Indien halten, wie das Leben in der westlichen Welt wirklich ist, so dass auch die Fehler und die nicht so glamourösen Seiten bekannt werden und das Land seine Richtung in die Zukunft bewusster bestimmt.

Als wir zurückkamen war der Kontrast dank Vorweihnachtszeittrubel noch größer. Es ist schon krass zu hören, welche Gedanken sich Menschen um unnütze Geschenke machen, anstatt einfach mal Inne zu halten und zu überlegen was wirklich wichtig ist. Es ist schon komisch wonach die Menschen so streben. Wo bleibt da die Angemessenheit?
Ich finde es zwar schön wieder in meiner gewohnten Umgebung zu sein aber die lebensfrohe, neugierige und einfühlsame Art der Menschen, das gute Essen und das intuitive Leben vermisse ich schon.

Indien hat mir einmal mehr gezeigt, dass Geld nicht der einzige Maßstab ist um zu bestimmen ob jemand arm oder reich ist.