DÜRFEN WIR ÜBER ANDERE URTEILEN?
Gestern Vormittag wurde ich fast von einem Motorrad überfahren. Doch von Schock oder Reue des Fahrers keine Spur. Im Gegenteil – der Fahrer striff im Vorbeifahren laut hupend meinen Lenker. Als er zwei Straßen weiter anhielt um zu parken und ich an ihm vorbeifuhr, schüttelte er laut schimpfend den Kopf. Was er da rief konnte ich zwar nicht verstehen aber ich war davon überzeugt, dass sein Tag nur noch besser werden konnte, nachdem er nun seinen eigentlichen Frust an mir ausgelassen hatte.
Der Anlass für seine “Erziehungsmaßnahme“ war der, dass ich nicht auf dem Radweg fuhr. Anstatt jedoch zu überlegen warum ich trotz Radweg die Fahrbahn nutzte, brachte er mich und sich selbst in Gefahr. Warum?
Fast immer haben Menschen einen nachvollziehbaren Grund für das was sie tun.
Vielleicht bin ich gerade erst abgebogen und konnte noch nicht auf den Radweg auffahren? Vielleicht versperrte ein parkender LKW den Weg? Vielleicht hatte ich etwas Schweres oder Zerbrechliches im Gepäck und nutzte daher die Straße anstatt des löchrigen Radwegs? Vielleicht habe ich eine schlimme Nachricht erhalten und anderes im Kopf als den Radweg zu nutzen? Vielleicht fuhr ich die Strecke zum ersten Mal und habe den schlecht gekennzeichneten Radweg übersehen? Vielleicht habe ich auch einfach einen Fehler gemacht?
Natürlich würde mich jetzt auch interessieren, warum der Motorradfahrer nicht einmal auf einen einzigen dieser möglichen Gründe gekommen ist.
Ich habe das Gefühl, dass so oder so ähnlich viele Konflikte in unserer Gesellschaft zustande kommen. Warum nur glaubt jeder immer er hätte recht? Und selbst wenn, warum können wir nicht trotzdem Rücksicht aufeinander nehmen?
Wir nehmen uns selbst zu wichtig. So wie ich sicher nicht auf der Straße gefahren bin, nur um eben diesen Motorradfahrer zu ärgern, genauso nehmen wir auch viele andere Dinge im täglichen Leben zu persönlich. Wir leben in unserer eigenen Welt und vergessen dabei, dass wir ständig mit den Welten unserer Mitmenschen in Berührung kommen. Wir alle nehmen Sachverhalte unterschiedlich wahr und empfinden Situationen anders. Verständnis, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und eine echte Verbindung entstehen erst dann, wenn wir uns für die Sichtweise des anderen öffnen. Das gilt insbesondere für Situationen, die wir selbst nie erlebt haben.
Weil uns dazu oft die Zeit fehlt, können wir hingegen unsere eigene Einstellung ein Stück weit ändern. Statt zu (ver)urteilen können wir akzeptieren, verzeihen und unser schwarz-weiß Denken ablegen. Dabei machen wir nicht nur unsere Mitmenschen, sondern auch uns selbst ein bisschen glücklicher.
Negative Erlebnisse, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nehme ich gerne als Anlass um über mein eigenes Verhalten nachzudenken und aus der Situation ein positives Fazit für die Zukunft zu ziehen. Zwar klappt das nicht immer – vor allem während ich in der Situation stecke – aber mit etwas Übung funktioniert es immer öfter.
Es ist ein tolles Gefühl anderen und sich selbst durch ein wenig Umdenken das Leben leichter zu machen. Wenn ich zum Beispiel spät dran bin, sehe ich ein, dass es meine eigene Schuld ist und rege mich nicht mehr über andere auf, die mir vermeintlich im Weg sind und mich aufhalten. Aggression und Stress auf dem (Arbeits-)weg ade!
Von kleinen Dingen bis zu großen Themen in Leben, Wirtschaft und Politik führt eine selbstverantwortliche und offene Denkweise zu gegenseitigem Respekt und guten Lösungen. Dabei ist es ganz egal, ob es sich bei der Auseinandersetzung um einen Konflikt mit unserem Mann / unserer Frau, anderen Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen oder Fremden handelt. Es hilft, die Probleme die wir haben nicht auf andere zu schieben. Denn meist kann nur einer grundlegend etwas an der Situation ändern – und das sind wir selbst.
(Wie) bewahrt ihr Ruhe in kniffligen Alltagssituation?
Hallo Anne,
dein Beitrag hat mich nachdenlich gemacht, weil ich mich sehr oft aufrege über folgende Situation: Ein (Liefer)wagen parkt auf dem Bürgersteig so, dass kein MEnsch mehr vorbei kommt, geschweige denn jemand mit Kinderwagen oder Rollstuhl. Die Fahrer der Autos und Kleinlaster parken so, dass die Straße frei bleibt, weil „der Verkehr ja noch durch muss“ (Zitat einer Frau, die ich heute gebeten habe, den Bürgersteig frei zu machen). De facto zwingen diese Fahrer die Fußgänger, auf die Straße auszuweichen. Ein paar Mal habe ich beobachtet (und gefilmt) wie dies kleine Kinder waren, die nicht daran gedacht haben auf den Verkehr von hinten zu achten.
Ich habe mir einige Male das Herz genommen, die Verantwortlichen anzusprechen und darum zu bitten, wegzufahren, bzw so zu parken, dass man noch durchkommt oder dass sie die stärkeren autofahrer blockieren, nicht de schwächeren Fußgänger.
Meist endete das in gegenseitigem Beschimpfen, ein paar Mal bin ich auch schnell weggegangen, da ich Angst hatte, eine Faust ins Gesicht zu bekommen. Jedesmal höre ich Vorwürfe, Beschimpfungen, einmal, als ich eine ältere Radfahrerin darauf aufmerksam machte, dass dies doch ein Gehweg sei, sogar einen Schubs in die Büsche (ich wurde gerade operiert und kann schlecht laufen, das war beängstigend).
Inzwischen schlucke ich nur noch und gehe weiter. Es ist schlicht zu gefährlich, Menschen auf Fehlverhalten aufmerksam zu machen. Vielleicht mache ich es falsch, aber es wäre meiner Ansicht nach keine Sache zu sagen „Oh, daran habe ich nicht gedacht, warten Sie, ich fahr gleich weg“ oder ähnliches.
Du scheinst einen ausgewogenen Kopf zu haben: wie gehst du damit um, wenn (Schwächere) gefährdet werden?
Hi Monika,
Schwierige Situation und sicher nicht pauschal zu beantworten. Ich glaube tatsächlich dass sich die Wenigsten „belehren“ lassen. Meiner Meinung nach hilft es am besten, selbst mit gutem Vorbild voranzugehen und Dinge aus der eigenen Perspektive heraus zu formulieren. Zum Beispiel: „Es tut mir leid aber ich komme hier leider nicht vorbei“ anstatt ein anklagendes „Sie stehen im Weg“. Oder auch „Was meinen Sie wie könnte man hier parken damit der Gehweg trotzdem benutzbar bleibt?“ Ob es hilft ist halt fraglich, aber in dem Moment wo die Leute nachdenken müssen, können sie nicht wütend werden. Liebe Grüsse, Anne